August 2020

 

 „Faust I“: Ein Wagnis gerät in Turbulenzen

jj. Faust könnte mit einem Teufelspakt mehr Erkenntnis gewinnen. Er opfert dafür Gretchen, die junge Unschuld, und ihr Kind von ihm. In der Muttenzer Fassung endet das Stück mit einem Schrei Mephistos, der die Flucht mit Faust und die Zukunft offen lässt.  Regisseur Danny Wehrmüller hat zwei Drittel des Riesentextes gestrichen: Alles was nur im Kopf der Figuren sich abspielt und was die Handlung nicht vorwärtstreibt. Da bleiben ein simpler Plot, ein bisschen moderner Habitus und viel Tamtam. Der als Bauchrednerhund eingesetzte Pudel ist super, die über den Kulissen erscheinenden Scheingötter von heute sind packend: Ärzte, Gelehrte, Päpste, Präsidenten. Eine glänzend spielende Natalie Müller als Mephisto trägt den Abend durch, sie ist eine Art sich selbst zelebrierender Mafia-Boss. Peter Wyss als alter Faust kann ihr Paroli bieten. Livia Studer als Gretchen zieht viel Aufmerksamkeit auf sich. 

Die Regie sucht Modernisierungen, die Figuren haben Smartphones und Klamotten ab der Warenhaus-Stange. In Auerbachs Keller sind punkige Rocker mit vielen Bierdosen. Als Faust Gretchen schwängert, zieht er ihr noch auf dem Bett gleich den Theater-Schwangerschafts-Bauch um. Die Gehilfen Mephistos erzeugen kleine Rocky Horror Picture Shows. Faust hat einen rollenden Bürosessel und der liebe Gott einen funkelnd neuen Rollstuhl. Es gibt einen Darsteller für den alten, einen andern für den jungen Faust, der alte schaut dem jungen und seiner eigenen Jugend nachdenklich zu. In der Walpurgisnacht erscheint die Truppe in deftig-üppigen Nacktkostümen mit mollig schlabbernden Geschlechtsteilen. Das Bühnenbild besteht aus drehbaren Wandelementen, welche die sichere Bleibe im Dasein aufzuheben scheinen. 

Goethes Sprache ist mehrere hundert Jahre alt. Und die Fragen der Sexualität, der Kirche, der bürgerlichen Moral und des Teuflischen stellen sich heute anders. Gretchens Gläubigkeit und ihre Frauenrolle sind passé. Fragen bleiben offen: Wer sind die Geister, die wir heute rufen? Gibt es heute noch Pakts mit dem Teufel, von wem? Wie sähe ein Gelehrtendrama am heutigen Biozentrum aus? Was erlitte ein heutiges Gretchen?

 

Dreissig Jahre begeisterndes, einzigartiges Volkstheater 

Die Theatergruppe Rattenfänger Muttenz feiert auf dem Kriegacker neben der Aprentas ihr dreissigjähriges Jubiläum. Natürlich wieder open air, Theaterbeiz, siebzig Mitarbeitenden und viel Muttenzer Publikum. 

 

 

Danny Wehrmüller, Gründer, Regisseur und Lokomotive der Rattenfänger, ist im Saft wie vor dreissig Jahren, als man runde fünfzig Minuten zu Fuss mitsamt dem Publikum auf die Burgruine Wartenberg  hinauf stieg und dort Carl Zuckmayers «Der Rattenfänger» spielte. Seither gab es jährlich die bekanntesten Stücke der Weltliteratur von Euripides über Shakespeare, Moliere, Brecht, Camus bis zu Dürrenmatt. Wehrmüller: «Wir gehören in den festen Jahresablauf von Muttenz. Die Wiederholungstäter im Publikum haben viele Orte der Gemeinde neu gesehen: Hauptstrasse ist dort, wo die Unbekannte aus der Seine gespielt hat, Dorfplatz der Ort, wo Richter Adam herum geschwurbelt ist. Im Park sind drei Schwestern ins Wasser gestiegen.“ 

 

Spuren des Theaters in der Gemeinde

Dreissig Jahre Dorftheater hinterlassen Spuren: Der Rückhalt der Rattenfänger in Muttenz ist sehr gut, das sogenannte Bildungsbürgertum ist die beste Kundschaft. Danny Wehrmüller sagt, einfachere Leute seien wohl etwas abgeschreckt von den Werken aus dem Repertoire der deutschen Literatur und ihrer Sprache. Aber im Rückblick zeigt sich, dass Wehrmüllers Inszenierungen von Beginn weg immer erfrischend waren, bewegt und mit einem feinen, Distanz nehmenden Schalk hinter allem Ernst. Die Sprache ist ausladender als in einem Kammerspiel, die Gestik kräftig und deutlich. Die Rattenfänger und die Muttenzer lieben unterschiedliche Bühnenbilder mit moderner Monumentalität (Was ihr wollt) oder Tradition (Der eingebildete Kranke). Die Inszenierungen und Texte haben teilweise konkrete Bezüge zu Gemeindethemen (Deponie Feldreben in Ibsens Volksfeind) oder belassen die Vorlagen ohne Ergänzungen (diesjähriger Faust 1). Bei einem Rückblick auf dreissig Jahre Rattenfänger wären viele Namen zu nennen, die das Spiel prägten, etwa Sonja Speiser, Salomé Janz, Erika Hägeli, Verena Obrist, Peter Wyss, Niggi Reiniger und Romeo Schmid. Ihre Figuren und Stimmen haben bleibende Bilder in den Einwohnern hinterlassen. 

 

Initialzündung war Carl Zuckmayers „Der Rattenfänger“

Der Moment der jeweiligen Produktion steht bei Wehrmüller immer im Zentrum. Für ihn sind aber Shakespeare-Stücke wie der „Sommernachtstraum“ und „Was ihr wollt“ von besonderem Gewicht, die Sprache, die Spielfreude, die Dichte und das jeweilige Natur-Ambiente. Zudem wichtig ist ihm die vieldiskutierte Inszenierung von Tschechows „Drei Schwestern“, als diese am Ende in Unterwäsche in den See stiegen. Unvergessen bleiben wohl vielen auch Brendan Behans „Die Geisel“ mit einer starken Lagerplatz-Stimmung. Und der mitreissende Gesang und Charme von Volker Ludwigs „Linie 1“. Danny Wehrmüller: „Natürlich ist das erste Stück vor dreissig Jahren das Wichtigste gewesen, weil es alles gezündet hat. Damals hatten wir keine Ahnung, worauf wir uns eingelassen hatten. Das wilde Unterfangen gelang und ermutigte zu weiteren Arbeiten.“

 

Wünsche und Ausblick

Danny Wehrmüller hat beim Alter der Spielenden nie Kompromisse machen müssen, ein Junger musste nie die Greisenrolle übernehmen oder umgekehrt. Aber das Ensemble hinter der Bühne braucht eine Verjüngung. Wehrmüller wünscht sich zudem, die Gemeinde Muttenz wäre auf Verwaltungsseite etwas reger, das Theater von Muttenz könnte als spezielles Volkstheater die Ausstrahlung von Interlaken oder Altdorf haben. Aber die Gemeinde nutze die Chance nicht, ein extremes Demokratie-Verständnis sei dominant, man wolle die Rattenfänger nicht anders behandeln als den Schachclub oder den Bienenzüchterverein. Der Werkhof könnte etwa beim Aufbau mithelfen und Infrastrukturen mittragen. Wehrmüller: „Jedes Jahr anderer Ort in Muttenz, jedes Jahr Freilicht, jedes Jahr eine Literatur-Inszenierung: Das ist ein einzigartiges Konzept.“