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Querbeet durch Berlins grosse Theater

Theater/Kritik/Joerg Jermann/www.joergjermann.ch/

2016

Querbeet durch Berlins grosse Theater – eine begeisternde Vielfalt bei gewissen Konstanten: Filmische Mittel, rasantes Clip- und Cuttheater und eingespielte Musik spiegeln unsere neuen Sehgewohnheiten

 

Roths „Hiob“ im Deutschen Theater

Der Plot dieser Geschichte bei Roth? Hiobs Glauben wird auf die Probe gestellt, Schicksalsschläge ereilen den von seiner Frau eher verachteten Dorflehrer. Drei Kinder, ein viertes wird behindert geboren. Ein Sohn geht ins Militär und geht dort verschollen, der andere flieht nach Amerika und veramerikanisiert, die Familie wandert zu ihm aus. Die Tochter wird ausgebeutet und verwirrt. Die Frau stirbt. Mendel Singer hat nichts mehr, er hadert. Der behinderte Sohn Menuchim aber, allein in Europa zurückgelassen, genest, findet seinen Vater und zeigt ihm, dass eine seiner Hoffnungen sich erfüllt. Jetzt kann Mendel sterben.

Ein Hochlicht: Alexander Khuon ist ganz stark als Menuchim. Gelassen, sein Schicksal akzeptierend, die Welt aufmerksam betrachtend; modern, nüchtern, sachlich und letztlich ungebrochen, trotz seiner anfänglich schweren Behinderung. Ein Stück Hoffnung in diesem Rothschen Hiob. Spannend auch, dass in einer sich dauernd verändernden Welt das Festhaltenwollen nur zu Hader und Unglück führt.

Die Inszenierung von Anne Lenk bringt viel zur szenischen Geniessbarkeit dieses epischen Roman-Brockens. Anfangs sind alle vor der Feuerwand auf der Vorbühne, wenn sie nichts mehr sagen, tauchen sie ab und nach Bedarf wieder auf. Sie erzählen den Roman gemeinsam, meist erzählen die nicht gerade Erwähnten über die andern. Ganz stark gemacht, weil parallel immer alle auch verschiedene Figuren spielen, anspielen. Erzählen und Spielen gehen ineinander über, kein Problem. Auch für die Schauspieler nicht, welche die Kinder spielen.

Konsequent durchgehalten: Keine Requisiten, ausser einer Puppe, die zuerst das Baby darstellt und dann zur Puppe von Menuchim wird. Später öffnet sich die Bühne schwarz und schräg ansteigend. Videos, Bilder und Musik aus dem Off werden eingesetzt, filmische Mittel genutzt. Über zwei Stunden Spielzeit sind trotzdem etwas lang. Die Qualität der Schauspieler ist hoch, weil sie nicht übertreiben, alles dar-stellen auch und nicht bloss nachspielen. Sehr zurückhaltende Mimik und Gestik. Positionen werden oft ganz starr gehalten. Begeisternd!

Wichtige Akzente: Starke Puppen sind möglich im Theater, auch verschiedenste szenische Erzählformen und mehrere Rollen gleichzeitig. Eine einzige Figur ist grotesk überzeichnet, der typische Amerikaner, volldick, Kaugummi, oberflächlich, blöd, kartofflich sprechend, Allgemeinplätze verbreitend, nur aufs Geld aus. Friends sind immer wohlhabend, sonst sind es keine.

 

Ibsens Baumeister Solness. Volksbühne

Frank Castorf wütet wild weiter, watet in seiner eigenen Wutwolle. Wieder derselbe selbstgefällige Regie-Selbstbe(i)fall. Castorf lässt die Schauspieler rasen und "Theater" machen. Er ist ein Scharlatan, da ist gar nichts dahinter, er hat anscheinend mehr und mehr Hämorrhoiden, die ihn am Arsch zwicken, gejagt davon werkelt er wie immer eine Riesenmaschinerie heran, weitgehend unbekümmert um Texte, Sinn, Inhalte. Er macht sich überfällig. Die Texte sind erbärmlich schnorrig abgewandelt und scheinmodernisiert. Dass so viele, auch in der Theaterwelt, auf spektakulär aufgemachte Kaisers neue Kleider reinfallen, ist ein Spiegelreflex unserer Kultkultur. Castorf ist gegenüber der Baumbauerzeit in Basel schlechter, selbstgefälliger geworden. Zudem gibt es im Haus keine akzeptable Verpflegung der Zuschauer, eine fröhlich-vulgäre Kantine, pseudovintage-DDR-ig. Ich mag auch diesen zynischen Altherren Gestus nicht, auch nicht die absichtlich verschluderte Sprache hin zum Dialekt. Ein Dialektstück wäre hingegen wichtig. Insiderwitzeleien Castorfs interessieren mich nicht.

 

Heiner Müller, Der Auftrag, Gorki-Theater

Ach je, eine völlig verkorkste, verkrampfte, verunglückte Inszenierung eines Theorie-und Thesen-Stückes à  la Sartre, intellektuell, viel zu lang, aus Angst, der reflektiv-zeigefingrig aufklärerische Text würde sowieso nicht verstanden, inszeniert die Regie mit viel futuristischem Bürohochhaus und Lift Hypertecno-Allu-Illusionen wie Spacewarfilme. Aussagen, die schon klar sind nach zehn Minuten: Die Revolutionen sind gescheitert, die Revolutionäre haben sich zu schämen, und wir uns sowieso gleich mit ihnen, weil sie weiss und westlich denken, wir haben ausgedient und das Theater macht am besten gleich dicht. Sollen wir denn reziprok östlich und schwarz denken? Dann würde die Gesellschaft erst recht zur galligen Endzeitpartie unter einem immer breiter werdenden Zynismus-Schirm: Einer steht im Gorki reglos auf der Bühne und spricht seine Analyse als Monolog unbewegt über 15 Minuten ins Publikum. Ein Wasserfall. Ein Reinfall. Ansonsten schnelle Wechsel, viel Zigarettenverschleiss, eine gute Pianistin, die aber ganz hinten im Abseitsmodus klimpern muss.

En tout eine Überforderung auch fürs Publikum, die Beine grumseln, jemandem fällt in der Stille die metallige Garderobenmarke zu Boden unter die nächste Stuhlreihe. Einzelne ziehen frühzeitig ab. Der Intellektualismus und das Bühnengetue lassen den Text wie eine Sauce an uns abfliessen, als hätten wir uns eine Plastikblache übergeworfen.

Fataler Höhepunkt: Revolutionäre im Dauerstreit dürften durch das Volk rennen, sie schreien sich übers ganze Parkett an und kommen von den Eingängen her bis auf die Bühne. Welche Schein-Aktualisierung!

Eine Idee ist richtig, wie einmal nur in dieser Inszenierung im Theater nicht nur Puppen, sondern eventuell auch grosse Kopfmasken aus Styropor zu nutzen. Das gibt einer Figur etwas Clownesk-Tragisches, auch Unnahbares und Unbewegliches, Unbeholfenes, Behindertes, Groteskes: Weil der Kopf zu gross ist für den Alltag. Dieser Müllersche ist es allerdings auch. Kein Vergleich etwa zu seinem wunderbaren „Philoktet

 

Der gute Mensch von Sezuan, Brecht, BE

Eine erstaunlich konservative, sehr texttreue und doch originelle Regie. Das BE ist ein etwas verstaubter Brechtkultort geworden. Unklar ist die Spielörtlichkeit: Einerseits sind wir in China, das Stück hat aber laut Brecht mit China nichts zu tun. Übergreifende Kapitalismuskritik immerhin. Kleine Leute und ihre Abhängigkeit von Lohn und Brotgebern. Shinte ist ein guter Mensch, der letztlich scheitert. Brecht überlässt es im denkwürdig-shakespearschen Schlusswort uns, die Lösung zu suchen.

Wohltuend, dass hier nicht versucht wird, mit Videos zeitgenössische Formen von Hunger oder Sklavenarbeit einzuspielen. Genau das müsste man aber wohl, um Brecht zu entstauben. Dann gibt es aber aktuellere Stücke. Er kommt uns heute naiv und weltfremd und sehr lieblich vor. Wie sich die Welt seit seiner Zeit verändert hat.

Aber hoch präsent und packend: Eine Schauspielerin, welche das Publikum fasziniert in der Wechselrolle Shinte und Shante. Antonia Bill. Die Darstellerin ist eine hervorragende Schauspielerin und eine sehr schöne Frau. Schade, dass sie sich noch wirklich ausziehen muss, das reisst die Sache etwas zu Boden. Ist absolut unnötig, sogar ihre Vielseitigkeit schädigend. Die Dramaturgie hätte im Übrigen noch viel mehr Striche machen können, der Text wirkt heute etwas breit ausgewalzt.

Schöne Bühnenbildidee: Drei mächtige Strassenlampen beginnen zu leben und schauen wie träg sich drehende Einäuger auf das Geschehen der Menschen hinunter. Sind das die heimlichen Götter? Diese haben laut Brecht die Zuschauerrolle. Sie mahnen und hadern und schubsen, aber sie tun nichts. Sie denken, je härter das Leben, desto mehr zeigten sich die wirklich Guten.

Einzelne Szenen, Regie Leander Haussmann, sind so schwach, dass man staunt. Da werden etwa Unmengen von Plastikstühlen herumgeworfen, manchmal muss da eine Intensität und Schreierei aufgebaut werden für nichts.

Ältere Schauspieler werden noch eingesetzt, das fällt auf und gefällt mir, sonstwo hat man das Gefühl, alle Älteren hätten kein Bier mehr auf Bühnen.

Das Bild mit der Glocke Brechts bleibt mir, die Menschen müsse man anhauen, ihnen mit dem Klöppel eins geben, damit sie klingen und in Bewegung geraten. Arbeitslose müssten arbeiten und man merkte schon zu Brechts Zeiten, dass sie das selten freiwillig tun. Zwang, Druck und Ordnung scheint förderlich für die Entwicklung, so ja auch in der Pädagogik bis zu einem gewissen Grad. Kein Wunder konnte die DDR mit diesem Brecht viel anfangen! Die Lieder von Paul Dessau scheinen heute gekünstelt verfremdet und antipoetisch, schade. Als traue er sich nicht, zu seinen schönen Melodiepassagen zu stehen, er löst sie immer wieder auf. Regisseur Haussmann hingegen verfremdet eigentlich nicht. Damit kommt er einer gewichtigen Brechtinterpretation nicht nahe. Aber ein sehr schöner Abend und die wunderbaren Programmhefte des BE gibt es immernoch.

 

Jelinek, er nicht als er, Ein Walser-Abend, Box DT

Jelinek nähert sich Walser an. Ihr Essay ist eigentlich kein Theatertext, ist dicht und lang und sie hat keine Hemmungen, Walser mit sich zu vergleichen. Sie bringt ganze Walserpassagen und antwortet ihm dann, sagt Paralleles über sich und unsere Zeit, das mit grosser Hochachtung. Allerdings schreibt sie selbst durchaus für die Öffentlichkeit, was Walser lange nicht mehr tat.

Thematisch ist es die psychische Eigenwilligkeit, der Rand zum noch Sagbaren, die Hoffnungen und Ängste, die Nähen zum Kranksein, die aktuelle Wahrhaftigkeit, weit weg von so etwas wie Mainstream, Erfolgsquote, leichter Lesbarkeit oder medialer Aufmerksamkeit. Das bewundert die Jelinek an Walser, da unterscheidet sie sich aber, das wird nicht reflektiert.

Felictas Bruckner inszeniert Walser als männlich angezogene Frau mit Hut in seiner autistischen Welt, ein Mann und eine Frau sind die Gegenparts, die Jelinek-Stimmen. Sie haben eigentlich nichts zu tun und müssen sich einiges einfallen lassen, herumwirbeln, schreien, Bühne drehen, sich hinlegen etc. Im Hintergrund immer wieder ein eingespieltes Klavierstück. Walser bringt manchmal schweizerische Worte mit dem harten CH-Cliché, Alle scheinen auf der Suche nach Identität über die Sprachgewinnung und scheinen zu hoffen, dass es klappt. Walser als Person und seine Texte haben immer auch etwas Hermeneutisches, nicht ganz Nachvollziehbares.

Ein sehr wertvoller Abend, eine Kleinproduktion zu dritt, kaum Beleuchtung, simple Bühne, Kostüme aus dem Fundus, kein Programmheft. Wunderbar ist auch die Box, ein völlig schwarzer, fensterloser Raum mit eher kleiner Zuschauerrampe. Aber wieder praktisch ausverkauft. Authentizität, Unikatcharakter, Vergänglichkeit scheinen wieder Freunde zu gewinnen.

Schlusswort: Jelinek erreicht Walsers Eigenheit und Tiefe nicht, aber sie vermag es, ihm nahe zu kommen und ihn zu würdigen. Sie lässt sich auch auf Themen ein, die keine Lösungen kennen. Am Ende haut der Monologist Walser plötzlich ab. Schade, dass nicht er, sondern ein etwas heischender Jelinekmonolog den Schlusspunkt setzt.

Manchmal wirkt ein Mikrophon für bestimmte Textstellen sehr gut, förderlich für das Verständnis, zitierend wirkend.

 

Bruckner, Krankheit der Jugend, Pavillon BE

Unglaublich hingebungsvoll gespielt von sechs jüngeren Schauspielern. Adoleszenzkrise: Selbstmord oder Paradies. Unzähmbare Triebe. Verschiedene Männertypen: die Intellektuelle, der Zuhälter. Verschiedene Frauen: Die sich körperlich kaufen lässt, also das Opfer, dann die Lesbierin, die Strategische und die sensible Zerrissene. Für mich interessant die Modernisierung, die sich mit Strichen und ganz wenigen Zusatzsätzen machen lässt, ausser der Rolle des Dienstmädchens.

Das Ganze "früher" spielen zu lassen hätte auch etwas gebracht, nämlich die Übertragungsleistung der Zuschauer auf das Heute. Ob die Jugend heute noch dieselbe Tragik empfindet oder denselben Weltschmerz wie frühere Generationen?  Oder gar mehr?

Eine Wucht von körperlichem Spiel, mit dem Höhepunkt der Erotik bei den Lesbenszenen mit einem total stillen Publikum, man getraute sich nicht mehr, zu schlucken. Weggelassen hätte ich die Flaschenverhauerei und den seltsamen Schluss, bei dem die Heldin nach dem Selbstmord der Freundin in den Kühlschrank steigt und durch die Tapete ins Off. Black. Das ist verblüffend schwach.

Was gut funktioniert: Den immer gleichen Raum zu lassen, aus dem nach Bedarf die Personen einfach rausgehen oder reinkommen. Eine Art WG mit offener Haustür statt ix Spielorten.

Die brutale Dominanz der Sexualität in diesem Jugend-Alter wird erinnert.

Gegenwart oder Moderne auf der Szene entsteht viel weniger durch den Plot oder das Drama selbst, als durch die Präsenz und Intensität der Schauspieler. Gegenwart und Moderne bedeutet in der szenischen Kunst: Vom Moment total gebannt und gepackt seiende Zuschauer.